Wer lesen kann …

Die Direktorin war in München, um einen Workshop für 20 bayerische Kolleginnen und Kollegen zu halten.  In der ehrwürdigen Bayerischen Staatsbibliothek wirkte das Thema fast zu locker:  „Echt cool! Voll fett! Wie holt man Jugendliche in die Bibliothek?“ Der Veranstaltungsraum lag auf der sonst eher ruhigen  Direktionsetage der Staatsbibliothek, die unter anderem auch Inkunabeln und andere Kostbarkeiten sammelt und für die Nachwelt konserviert. Die Schätze sind wertvoll, dementsprechend leise und ehrerbietig benimmt sich die Nutzerschaft.

Die Direktorin schaffte es in der knapp bemessenen Mittagspause, Einlass in die Bibliothek zu erhalten. Der erste Security-Mann ließ sie passieren, da ein Kollege der bayerischen Fachstelle für Bibliotheken für sie bürgte.  Erwartungsvoll betrat sie den riesigen Lesesaal, hob vorsichtig die Füße und versuchte, geräuschlos über den Teppichboden zu gleiten. Es war jedoch wie immer: Hunderte von Menschen dösten hier, schliefen, meditierten oder hingen einfach ab, einige müffelten vor sich hin, schätzungsweise die Hälfte las konzentriert.

Die Direktorin verließ den Schlafsaal und machte sich auf, die Schatzkammer zu erkunden. Auch der zweite Security-Mann ließ sie ein, klaute ihr dafür aber die Handtasche. Der Lesesaal der Schatzkammer war es jedoch wert: Allein die Bleibänder zum Beschweren der großen Folianten waren beeindruckend. Ein Buch zum Angucken hätte allerdings vorab per Leihschein bestellt werden müssen. Also zog die Direktorin wieder ab und schaute sich gleich hinterm Eingang die kleine Vitrinenausstellung wertvoller Handschriften an. Der Raum war abgedunkelt und klimatisiert und hatte zwei Besucher: Eine ältere Dame nebst …

… ihrem Dackel!

„Jo, mei!“, dachte die Direktorin in bestem Bayerisch und wechselte sofort in den heimatlichen Dialekt: „Dat jibbet doch nich!“

Sie verfolgte das Pärchen. Das Frauchen stellte viele Fragen, ging herum und verwickelte die Infobibliothekarin in ein intensives Gespräch. Der Dackel folgte ihr stets und wurde seinerseits vom wohlmeindenden Blick der Bibliothekarin verfolgt. Die beiden kannten sich, das war klar. Kaum war die Dame gegangen, war auch der Dackel weg. Doch nur zwei Minuten später war die Dackelbesitzerin wieder da und hatte noch eine Frage: „Hätten Sie das Veranstaltungsprogramm für das kommende Jahr wohl auch schon?“

Die Antwort hörte die Direktorin nicht mehr, denn sie platzte regelrecht dazwischen: „Ja, sagen Sie mal: Wo ist denn Ihr Dackel?“

„No, da sitzt doch das Zamperl!“ Der Zeigefinger der Frau zeigte nach unten: Um die Ecke saß der Dackel vor einem großen Plakat und las. Er las still und mit erhobenem Kopf.

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