Doch lieber Lotto

Sie waren 15 bis 17 Jahre alt, cool gekleidet und unterhielten sich angeregt. Die Stadtbibliothek betraten sie mit den Worten: „Ach Du Scheiße!“

Beim Rechtsabbiegen in die Kinderbibliothek wurden sie jedoch gestört– die Bibliotheksdirektorin rief ihnen hinterher: „Hey Jungs! Kulturelle Einrichtung! Wortschatz überprüfen!“ Mit einem aussagekräftigen „Hä?“ plumpsten alle auf das nächstliegende Sofa, streckten die Beine von sich und rückten die Käppis wieder grade. Nur einer trug die Haare offen, dafür fett gestylt.

10 Minuten später rauschte Madame Bibliotheksdirektorin wieder vorbei und sah nur noch einen Jungen auf dem Sofa. Ein zweiter lümmelte vor der Kindertoilette herum, und der dritte saß wohl gerade drauf. „Sagt mal, geht ihr hier eigentlich nur zum Klo oder macht ihr auch was anderes?“ Nach irritierten Blicken und einem „Hä, warum fragt die das?“ entwickelte sich doch noch ein erbauliches Gespräch …

Man stellt sich einander vor und findet sich irgendwie symphatisch. Die Jungs haben einen polnischen, russischen und türkischen Hintergrund, sprechen perfekt Deutsch und kommen zum Lernen in die Bibliothek. Ausgerechnet der Schulabbrecher, ein echter Charmeur, fragt: „Kann ich bei Ihnen ’nen Job kriegen? Ich brauch’ Geld!“

Die Direktorin antwortet mit ihrem üblichen Sermon und bietet dem jungen Mann an, sich in der Bibliothek ausbilden zu lassen. Den Hauptschulabschluss holt der Junge gerade extern nach und männliches Personal mit Migrantenhintergrund wollte die Direktorin doch schon ewig lang einstellen! Nur einen Einstellungstest vorab muss man bestehen. Die Frage „Was kannst du denn so?“ wird allerdings sehr knapp gekontert: „Nix!“

Nun dreht die Direktorin richtig auf: Sie schildert den tollen Beruf, wirbt und zeigt das spannende Aufgabenfeld des FAMI (= Fachangestellter für Medien- und Informationsdienste; ausgesprochen uncoole Berufsbezeichnung, oder?) auf.

Leider hat alles nichts genutzt. Der junge Mann kapierte recht schnell, dass man auch in der Bibliothek richtig arbeiten muss. Er ist dann doch lieber noch schnell zum Lottogeschäft gespurtet, allerdings nicht ohne vorher das Versprechen abzugeben: „Wenn ich gewinne, lade ich Sie zum Essen ein!“

Cool, hä? 😉

4 Gedanken zu „Doch lieber Lotto

  1. Ja, es überrascht auch den einen oder anderen Leser immer wieder aufs Neue, wenn er erfährt, dass man schon vor 11 Uhr in der Bibliothek aufschlägt und sich auch die Bücher nicht selbst lektoriern, bestellen, einschlagen und einstellen…auch von Schülerpraktikanten hört man dann und wann ein „Sie arbeiten ja hier richtig“…nun ja…

    Gruß,
    Martin

  2. Wie gut, dass mich in meiner Ein-Frau-Bücherei die Kinder auch arbeiten sehen!
    Nur sind sie erstaunt, wenn sie erfahren, dass ich das alles ehrenamtlich mache.

    Sollte ich vielleicht doch auch lieber Lotto spielen statt in die Bücherei zu gehn?
    Das fragt sich
    Heide

  3. Also FaMI ist gar nicht mal so schlimm auszusprechen. Ist besser als wenn man als bessere Lageristin oder Vor-Bibliothekarin bezeichnet wird, was manchmal leider viel zu oft in meinem Bekanntenkreis der Fall ist.

    LG,
    Sarah

  4. Oh ja! Solche Bemerkungen kenne ich seit meiner Ausbildung zur FaMI auch zur Genüge. Als ich mein Konto eröffnet habe, kam ich mit dem Angestellten ins Plaudern und der meinte nur: „So ein schöner Beruf, den ganzen Tag lesen!“ Und meine Eltern fragten nur ganz erstaunt, warum ich denn spätestens ab 9 Uhr arbeiten muss, wo doch die Bibliothek erst um 10 Uhr öffnet. Da hilft bloss entweder lächelnd ignorieren oder tief Luft holen und die Unwissenden erleuchten…

    (Der Blog ist übrigens klasse! Habe ihn gerade erst entdeckt und kringel mich hier bald vor Lachen :-))

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