Moral und Solidarität

Die ältere Dame ist schon lange Stammkundin der Bibliothek und hatte sich gerade einen Stapel Romane ausgeliehen. Ihr Mann stand noch an der Ausleihtheke, und sie setzte sich an das kleine Tischchen neben der Eingangstür, stellte ihre Handtasche ab und packte alles ein. Dann lehnte sie sich zurück und entspannte.

Da kam schnellen Schrittes eine junge Frau aus dem Lesecafé heran, schnappte sich die Handtasche und gab Fersengeld. Geistesgegenwärtig schrie die alte Dame: „Haltet die Diebin!“ und sprang auf. Ihr Mann eilte zur Hilfe, andere schrieen nun auch. Dann rannten auch andere, um die dreiste Diebin zu stellen. Die junge Frau floh auf die Straße, und sofort fand die Verfolgungsjagd ein interessiertes Publikum. Es entstand ein filmreifes Handgemenge vor den zahlreichen Passanten.

Auch einige Obdachlose waren da, die in der Bibliothek gerne mal ein Bierchen kippen, was ihnen die Bibliotheksdirektorin immer wieder streng verbietet. Da es immer dieselben sind, werden sie in der Bibliothek liebevoll ‚unsere Penner‘ genannt. Alle hatten ihre Pulle Bier dabei und guckten. „Also, dat ist ja’n Ding“, sagte einer zu seinem Kumpel. „Klauen die jetzt schon inne Bibliothek?“ „Ja, sieße doch!“ bekam er zur Antwort. „Verdammt, dat is ja wohl voll unmoralisch!“

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Häuptlingskommando K

Es war ein ruhiger Dienstag in der Bibliothek. Das Team arbeitete fleißig, und die Kunden waren novembermäßig still. Unsere Direktorin telefonierte, machte Türdienst, hatte eine nette Besprechung und tippte am PC herum. Da klingelte das Telefon, die Ausleihtheke war dran.

„Wir haben hier etwas Unangenehmes. Ein Kackhaufen auf der Damentoilette. Den hat ein Herr dort hinterlassen. Was sollen wir tun?“

Der Bibiotheksdirektorin lag die einfachste Antwort auf der Zunge: „Wegmachen!“ Doch wenn es so einfach wäre, hätte die Theke nicht angerufen. Hier war also Führungsstärke gefragt. Das Führungsteam machte sich startklar. Thekenchefin und Verwaltungsleiterin wurden mit Gummihandschuhen ausgestattet, eine stabile Abfalltüte musste her, Eimer, Lappen, Schaufel und Putzmittel ebenso. Und so machte sich das Kommando „Kackhaufen“ auf den Weg. Zwei Etagen musste das Sonderkommando überwinden, dann stand es vor der mit Trögen verbarrikadierten Toilettentür. Vorsichtig lugten die drei Führungsdamen hinein: „Och, das ist aber ein kleiner Haufen, da hätten wir jetzt was Größeres erwartet!“

Die Direktorin schnappte sich das stinkende Häufchen, bugsierte es schön vorsichtig in die Beck’sche Büchertüte, die den bezeichnenden Aufdruck Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten hatte, und trug den Haufen gleich in den Müllcontainer. Die Verwaltungsleiterin hatte sich derweil den Schrubber geschnappt, und so war der Kackehaufen innerhalb von fünf Minuten beseitigt. Danach wuschen sich die drei Führungsdamen gründlich die Hände und alle Lappen sauber aus: Fertig!

Die Putzfrau wird also morgen nichts merken, das gäbe sonst wieder nur Ärger! 😉

Isolation und Reiz

Herbstzeit ist Lesezeit! Landes- und bundesweite Aktionswochen stehen allerorten auf dem Programm, und so ist unsere Bibliotheksdirektorin noch spät abends im Einsatz. Wenn alles aufgeräumt ist, packt sie ihre Taschen und fährt mit dem Aufzug ins Parkhaus, das gleich unter der Bibliothek liegt. Neuerdings fährt sie mit gemischten Gefühlen, denn in der vergangenen Woche fand sie dort alle zwei Tage Männer, die auf den Treppenstufen schliefen und ihr etwas Angst machten.

Und tatsächlich: Da liegt wieder einer! Die Direktorin guckt vorsichtig um die Ecke – der Mann ist noch wach, und sie spricht ihn an: „Sagen Sie, Sie haben doch am Freitag auch schon hier geschlafen, oder irre ich mich?“ „Mmmh, kann sein“, brummt der nicht mehr ganz junge Mann und schnippt seine Zigarettenasche in die Bierflasche, die neben ihm steht. „Wissen Sie, dass Sie total laut geschnarcht haben?“, hakt die Bibliotheksdirektorin nach. „Ich habe mich total vor Ihnen erschrocken!“

„Nein!“, ruft der Mann, guckt entsetzt und schlägt sich die Hand vor den Mund. „Ich habe geschnarcht, ehrlich?“ Er schämt sich.  „Ja, ehrlich!“, bekräftigt die Direktorin und so langsam beruhigt sie sich und wird zutraulicher. Weiterlesen

Pizza, Party, „Papa pomm“

Unsere Sommer-Lese-Club-Party war superlecker: 120 Kids ab 8 Jahren waren da, und alle hatten in den großen Ferien zwischen 3 und 30 Bücher gelesen. Die Bürgermeisterin sprach kurz und knackig, und wer das Literaturquiz gelöst hatte, wurde mit Gummibärchen beglückt. Clown Pipina kippte Glitzer und Glimmer über den Kindern aus und hampelte ordentlich herum: Die vielen Luftballon-Hündchen, die so schön quietschten, mussten ja schließlich verteilt werden!

Oh, die Pizza ist schon da! 20 Minuten zu früh! Die Bibliotheksdirektorin verschwand hinter einem Berg von Pappkartons und schleppte die duftenden Margheritas ins Lesecafé. Die Stücke flogen nur so auf die Teller, und nach 20 Minuten waren alle Leseratten satt.

Alle? Nein! Ein kleiner Fahrradfahrer mit galaktischem Helm– vielleicht 4 Jahre alt– war von draußen dem leckeren Geruch gefolgt und bahnte sich seinen Weg durch die Menge. „Papa pomm, Pizza!“ Drei Männer folgten dem Kleinen, alle hatten eine Flasche Bier in der Hand und guckten etwas glasig. Nachdem die Direktorin etwas mühevoll die Vaterschaft klären konnte, schickte sie die beiden Nicht-Väter  mit den 3 Blierflaschen nach draußen, denn der Knirps wartete nun schon länger auf seine Pizza.  Zum Nachtisch gab’s einen Luftballon-Dackel und für die Direktorin ein strahlendes Kinderlachen.

Dat hammer schon immer so jemacht

Die Bibliotheksdirektorin saß wieder mal an der Ausleihtheke und verbuchte Bücherberge.  Das macht sie gerne, denn dabei kommt sie zwanglos mit der Kundschaft ins Gespräch, erhält Lesetipps und Rückmeldungen aller Art. Anscheinend gehen ihre Kundinnen viel lieber in die Bibliothek als zum Friseur …

„Ah, da kommt wieder diese nette alte Dame, die jede Woche stapelweise Romane verschlingt!“ freute sich die Direktorin und begrüßte die langjährige Kundin: „Na, wie haben Ihnen die Bücher denn gefallen?“

„Sehr gut, ich bin ganz im Lesen aufgegangen und bringe sie jetzt alle zurück.  Sie brauchen nicht erst nachzuzählen, ist alles komplett!“ erwiderte die Oma und lächelte strahlend.

„Ja, aber ich muss die Bücher doch rückbuchen, sonst stehen die weiter auf Ihrem Ausleihkonto, und Sie müssen womöglich Mahngebühren bezahlen!“ entgegnete die Direktorin.

„Nein, ich habe noch nie Mahngebühren bezahlt, wirklich nicht! Bei mir ist immer alles in Ordnung! Auf mich können Sie sich verlassen.“

Die Bibliotheksdirektorin lenkte ein und meinte: „Na, wir machen das dann gleich, wenn Sie sich etwas Neues ausgesucht haben, dann kommen Sie einfach wieder zu mir.“ Und mehr aus Routine als aus Neugier setzte sie hinzu: „Ist denn Ihr Bibliotheksausweis noch gültig?“

„Bibliotheksausweis? Habe ich gar nicht. Ist das neu? Ich leihe mir bei Ihnen seit Jahrzehnten Bücher aus, und hatte noch nie einen Ausweis. Wofür soll der denn gut sein? Ich bringe doch immer alles wieder nach vier Wochen  pünktlich zurück, da gab es noch nie ein Problem!“

Ey Alter, kumma hier

„Kumma hier, wie dat aussieht, Alter!“
„Ey, bei mir sieht dat aber anders aus! Lass ma sehen!“

Die beiden Jungs saßen in der Jugendbibliothek und hatten die Abteilung „Liebe Sex“ vollständig ausgeräumt.  Sämtliche Bücher lagen um sie herum verteilt.  Sie lasen laut, ziemlich laut, hatten beide gute Vorlesestimmen und kommentierten ihre „Vorlesestunde“  immer wieder mit einem fetzigen: „Ey Alter, kumma hier!“ Dann beugten sie sich über das eine oder das andere Buch, guckten genau hin, lachten laut, hauten sich irgendwohin oder kicherten wie kleine Mädchen.

Unsere Bibiotheksdirektorin stromerte dreimal an den lernbegierigen Jungs vorbei und war von der Inszenierung ganz begeistert. „Die könnte man für  einem Book-Slam gebrauchen!“, dachte sie bei sich und drehte weiter ihre Runde.

Zwei Stunden später hatte sich die Truppe vergrößert.  Sechs Jungs machten nun Radau, guckten in den Büchern herum und schmiedeten dann Pläne für den restlichen Tag. Sie verließen die zerfetzte  Literaturabteilung „Liebe Sex“ mit den Worten:

„Ey, dann gehen wir aber runter in die Erwachsenenbibliothek.  Hier isset immer so laut, da unten isset viel ruhiger, Alter.“

Der Trichter und sein Henkel

Die Ferien hatten gerade begonnen und unsere Direktorin hatte Besuch: Ihre Großneffen und -nichten sprangen herum. Mit der kleinen Großnichte aß sie abends und am Wochenende am liebsten Hühnersuppe, die große Großnichte brauchte eigentlich nur einen Spiegel und viel Glitzerschminke, und der Großneffe lief gerne im Blaumann herum und sägte und ackerte im Garten. Wie freute sich die Bibliotheksdirektorin, als sich beim Sägen ein literarisches Gespräch entwickelte.

– „Du sag’ mal, Du kennst doch so viele Bücher und hast doch auch welche; ich muss nämlich eins für die Schule lesen. Kannst Du mir das in den Ferien leihen?“
– „Ja klar!“ antwortete die Direktorin. „Wie heißt denn das Buch?“
– „Wie, wie das heißt?“
– „Na, der Titel vom Buch, wie lautet der?“
– „Ja nee, das weiß ich nicht, da muss ich mal gucken, wo ich das habe, ich sag’ Dir morgen Bescheid.“

Der Großneffe ging auf die Suche, und kurz vor dem Ferienende wurde er fündig: „Ich hab ’s!“ rief er fröhlich. „Das Buch ist von einem Henker und einem Dichter! Hast Du das?“

Gott sei Dank fand die Direktorin den Dürrenmatt-Krimi in ihrem Bücherschrank. Und auch wenn der Titel nicht so ganz der Erwartung entsprach, fing der junge Mann sofort an zu lesen …

Vorlesen mit ohne alles

„Von Witzbolden und Kichererbsen“ heißt der Vorleseclub, der immer dienstags für Kinder ab 5 Jahren im Angebot ist. 20 ehrenamtliche Vorlesepatinnen  und -paten sind dort allwöchentlich im Einsatz und versprechen Spaß und Gelächter für die kleinen Geschichten-Fans. Unsere Bibliotheksdirektorin hat die Vorlesenden ordentlich ausgebildet– alle zwei Jahre kommen neue Vorleserinnen und Vorleser dazu, andere hören auf. Ganz besonders froh ist die Direktorin, wenn sich Jungs oder Männer ausbilden lassen: Das erleichtert die Leseförderung für Jungen sehr.

Der jüngste Vorleser– nennen wir ihn mal HM (der echte Name ist der Direktion bekannt!)– ist ziemlich cool: 14 Jahre alt und gehört in die Gruppe „männliche Jugendliche mit Migrantenhintergrund“. Der Knabe hat Talent, und heute war er zum ersten Mal mit Vorlesen dran. Freudig wird er von der Bibliotheksdirektorin empfangen.

– „Hallo HM, da bist Du ja, prima! Was wirst Du denn vorlesen, wo ist denn Dein Buch?“
– „Buch?“
– „Ja, Dein Buch, wo ist es denn? Du bist doch sicher vorbereitet und hast geübt?“
– „Äh, also, ehm: Ich hab’ kein Buch.“
– „Wie, Du hast kein Buch? Wie willst Du denn dann vorlesen?“
– „Ähm, also, ich hatte gedacht … also, ehm …“

Die zweite Vorleserin– eine erfahrene Kraft– schnappte sich den jungen Mann kurzerhand und sagte: „Das machen wir schon!“, und eh sich der Jüngling versah, musste er einzelne Seiten aus einer gereimten Hasengeschichte vorlesen. Er stolperte mit großer Gelassenheit durch den Text, malte mit den Kindern dann Hasenkörbchen der schönsten Art und brauchte am Ende 20 Minuten, um fünf  alphabetisch einsortierte Namenskarten zu finden. Zum Glück kam dann aber einer seiner Kumpel vorbei, und HM beendete die Vorlesestunde mit den Worten: „Hey Alter, das iss hier ja voll anstrengend!“

Feedback

Unsere Bibliotheksdirektorin freut sich immer, wenn die Kundschaft eine Meinung zur Bibliothek entwickelt, sich etwas wünscht oder Vorschläge macht. Manche Vorschläge sind geradezu genial und einfach umzusetzen. Da gibt es aber auch die sogenannten Querdenker, die einen völlig anderen Blick auf die Bibliothek entwickeln:

– „Lassen Sie doch einfach die untersten und obersten Regalbretter frei! Dann komme ich viel besser an alles dran.“ Oder:
– „Können Sie nicht ein paar Zeitungen in den Toiletten auslegen und dort auch ein wenig Musik abspielen?“

Schriftliche Rückmeldung auf den ausliegenden Meinungszetteln machen jedoch am meisten Spaß, so zum Beispiel die von einem 12-jährigen jungen Kunden, der sich zu den  Themen  ‚Freundlichkeit‘ und ‚Internet‘ äußert:

Personal ist inordnung und sehr freundlich. Das anmelden für den Internetzugang finde ich verbesserungswürdig dass Kinder ab 12 Jahren aupwerts sich selbst anmelden könnten ohne dumme Vormulahre der Elten

Es hat also doch was gebracht, die Kinder unter allen Umständen zum Schreiben zu motivieren. Die richtige Rechtschreibung kommt später– das sieht man doch!

Schlüsselqualifikationen

Die allermeisten Leute glauben immer noch, dass es als Qualifikation für die Arbeit in einer Bibliothek völlig ausreiche, lesen zu können. „Das Schwarze sind die Buchstaben“ schrieb schon Hans Weigel und mehr braucht es dann wohl nicht.

„Was, Sie haben studiert? Ja, wofür denn? Und eine Ausbildung von drei Jahren kann man auch bei Ihnen absolvieren? So lange dauert das? Was lernt man denn da so?“ Dann fängt unsere Direktorin an zu erklären und wirft mit bibliothekarischen Fachbegriffen nur so um sich.

Ganz kurz antwortet sie jedoch auf Initiativbewerbungen, mit denen sich Bäckereifachverkäuferinnen, Kindergärtnerinnen, Journalisten, Lehrer, promovierte Germanisten oder auch Industriekauffrauen bei ihr bewerben. „In Beantwortung Ihrer Bewerbung möchte ich Sie darüber informieren, dass in unserer Bibliothek ausschließlich Berufsgruppen eingestellt werden, die  eine Ausbildung im Bereich Bibliothekswesen absolviert haben.“

Die letzte Bewerbung brachte sie jedoch zum Nachdenken. In der Bewerbung um eine Stelle als „Bibliothekerin“ fand sie eine besondere Qualifikation, die in Bibliotheken bis jetzt völlig unbeachtet geblieben war:

Die Dame war ausgebildet für astrologische Beratung und Horoskope, war „Kartelegerin“ und gab unter dem Stichwort „Berufstätigkeit“ an, bei einer Firma „in Fach Astrologi und Kartenlesen“ gearbeitet zu haben.

Na, immerhin kam das Wort „lesen“ drin vor!