Isolation und Reiz

Herbstzeit ist Lesezeit! Landes- und bundesweite Aktionswochen stehen allerorten auf dem Programm, und so ist unsere Bibliotheksdirektorin noch spät abends im Einsatz. Wenn alles aufgeräumt ist, packt sie ihre Taschen und fährt mit dem Aufzug ins Parkhaus, das gleich unter der Bibliothek liegt. Neuerdings fährt sie mit gemischten Gefühlen, denn in der vergangenen Woche fand sie dort alle zwei Tage Männer, die auf den Treppenstufen schliefen und ihr etwas Angst machten.

Und tatsächlich: Da liegt wieder einer! Die Direktorin guckt vorsichtig um die Ecke – der Mann ist noch wach, und sie spricht ihn an: „Sagen Sie, Sie haben doch am Freitag auch schon hier geschlafen, oder irre ich mich?“ „Mmmh, kann sein“, brummt der nicht mehr ganz junge Mann und schnippt seine Zigarettenasche in die Bierflasche, die neben ihm steht. „Wissen Sie, dass Sie total laut geschnarcht haben?“, hakt die Bibliotheksdirektorin nach. „Ich habe mich total vor Ihnen erschrocken!“

„Nein!“, ruft der Mann, guckt entsetzt und schlägt sich die Hand vor den Mund. „Ich habe geschnarcht, ehrlich?“ Er schämt sich.  „Ja, ehrlich!“, bekräftigt die Direktorin und so langsam beruhigt sie sich und wird zutraulicher. Weiterlesen

Geheimsache 00

Täglich kontrolliert die Direktorin die Broschürenständer im Eingangsfoyer und räumt auf, legt hin und wirft weg, was dort nicht hingehört. Wird sie dort identifiziert, fängt die Kundschaft gerne ein Gespräch mit ihr an, das meistens mit den lauten Worten beginnt: „Ach, wo isch Sie jrad sehe!“ Da weiß sie dann gleich, woran sie ist, stellt das Arbeiten ein und ist ganz Ohr. Verbesserungsvorschläge, Anschaffungswünsche, private Lesetipps von Kunden, die angeblichen Spitznamen der Mitarbeiterinnen, vermeintliche Schwangerschaften, Kritik an Staat, Stadt und Land– es ist eine große Bandbreite zu verzeichnen!

Doch dieses Mal kam unsere Direktorin gut mit der Arbeit durch. Sie umkreiste den letzten Ständer mit einem prüfenden Blick und wollte gerade gehen, als sie  eine schemenhafte Bewegung hinter sich wahrnahm. Sie spürte einen kalten Hauch im Nacken, schrak zusammen,  drehte sich um, doch da war der Mann schon ganz nahe heran. Die Direktorin erstarrte– an Flucht nicht mehr zu denken, denn der Mann hatte schon zugegriffen und hielt sie am Arm.  Gnadenlos schaute er ihr in die Augen und flüsterte ihr verschwörerisch ins Ohr:

„Auf der Männertoilette ist die Seife alle! Können sie da mal schnell  für Nachschub sorgen?“

Alles Kunst

Die Bibliotheksdirektorin hatte am Abend wieder mal zu tun: Eine  Ausstellungseröffnung mit drei jungen Fotografen war geplant, und es lief gut! 90 Besucherinnen und Besucher waren pünktlich um 19 Uhr erschienen. Nach vier knackig kurzen Reden tranken alle  Wein, Saft oder Selters und gruppierten sich um die  Fotos. „Vom Zukunftsentwurf zum Artefakt – das Turmzentrum im Rückbau“ dokumentierte die Schließung des geliebtes Karstadt-Kaufhauses und regte alle an, miteinander zu reden und festzustellen, dass man nun kaum noch weiß, wo man Socken, Handtücher oder einen neuen Mülleimer kaufen könnte. Die Bibliotheksdirektorin war überall und nirgends und bemerkte einen älteren Herrn. Schon eine gute Viertelstunde lang blickte dieser gedankenverloren auf den Flucht- und Rettungswegeplan der Bibliothek, der den Ausstellungswänden gegenüber angebracht war. Nach einer Weile tippte sie ihm vorsichtig auf die Schulter:

„Hallo, die Fotos der Ausstellung hängen hinter Ihnen!“ Der Mann blickte sich um. „Tatsächlich? Und gerade hatte ich noch den Rettungsplan von Karstadt kapiert!“

Julia und Romeo

Der junge Mann hing schon seit einer halben Stunde auf dem Geländer des Lesegartens und schaute in die Einkaufspassage herunter. Weiße Haut, schwarze Klamotten, hohe  Schuhe: Fast regungslos beobachtete er die Menschen, die unter ihm herliefen.

Die Bibliotheksdirektorin wurde etwas misstrauisch und beschloss, eine Viertelstunde später wieder nachzuschauen, ob der seltsame Beobachter noch da wäre. Tatsächlich, er stand unverändert an derselben Stelle und starrte nach unten.

Da Rumstehen und Rumgucken ja nun wirklich nichts Schlimmes ist, trollte sie sich erstmal. Weitere 10 Minuten später war sie wieder im Hause unterwegs: Der schwarze Jüngling stand immer noch wie eine Statue in der Ecke des Lesegartens. Die Direktorin tippte ihm auf die Schulter.

„Sagen Sie bitte: Was machen Sie denn hier, und wen beobachten Sie  genau?“

Der junge Mann zuckte zusammen, verdrehte sich etwas und sagte freundlich:  „Meine Freundin ist seit einer Stunde da unten im Dessousladen und kommt nicht wieder raus. Ich will sie nicht verpassen. Oh, da kommt sie gerade! Julia! Julia! Hier oben bin ich! Hiieer, auf dem Balkon! Hallo, Julia, hier oben! Ich komme runter!“

Und Romeo lief freudig seiner Liebsten entgegen, die eine hübsche Tüte voller liebreizender Unterwäsche trug.

Lesemotivation

Für unsere Bibliotheksdirektorin war im Rahmen der bundesweiten Bibliothekswoche „Deutschland liest. Treffpunkt Bibliothek“ Nachtarbeit angesagt. An 8 Veranstaltungstagen mit 11 Aktionen begrüßte sie die zahlreich erschienenen Gäste, rappte das Rumpelstilzchen und fiel um Mitternacht völlig erledigt ins Bett. Ein Highlight war der „Ohrclip“ des WDR 5 mit Frank Schätzing und Elke Schmitter. 170 Besucherinnen und Besucher hatten sich angemeldet, es gab Sekt, Selters, Saft und Bionade.

„Mmmh, lecker!“, fand Herr Schätzing und schnappte sich gleich ein Fläschchen Öko-Limo. Die Gäste bedienten sich ebenso, fanden auch die Knabbereien lecker und alles war prima.

Zwei Tage später stand der Vortrag „Was ist eigentlich ‚Gute Literatur‘?“ auf dem Programm. Auch zwei außergewöhnlich aussehende Männer hatten sich diesmal eingefunden, zögerten aber etwas, den eigentlichen Vortragsraum zu betreten.

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